Letzte Woche habe ich mit einem Klienten an seinem Ikigai gearbeitet. Er ist eine Führungskraft in den 50ern und in seinem Beruf nicht mehr glücklich.
Als er vor einigen Wochen das erste Mal zu mir kam, war er hoch motiviert und wollte sofort loslegen. Aber gut Ikigai will Weile haben und so haben wir uns in der nächsten Zeit wöchentlich getroffen. Je näher wir seinem Ikigai kamen, desto mehr merkte ich, dass die Motivation nachließ. Er wirkte angespannt und sagte auch mal einen Termin ab.
Letzte Woche habe ich ihn darauf angesprochen und gefragt, was denn los sei. Sichtlich aufgebracht erwiderte er „Herr Möhrke, Ikigai schön und gut, aber ich kann doch nicht einfach alles hinschmeißen!“
Mit solchen oder Ähnlichen Reaktionen werde ich bei der Ikigai-Suche immer mal wieder konfrontiert. Ich kann diese Reaktionen vollkommen verstehen. Den Klienten ist klar, dass sie in ihrem Leben etwas ändern müssen, aber je näher die mögliche Veränderung kommt, desto bedrohlicher wirkt sie. Als ich den IT-Bereich verlassen habe und Coach geworden bin, ging mir das nicht anders.
Aber vielleicht muss man ja auch nicht gleich alles hinwerfen
Als Prinz geboren
Lass uns mal ein Gedankenexperiment machen. Stell‘ dir vor, dass du ein Kaiser bist. Du bist Kaiser eines Volks, das dich als einen Gott verehrt. Nun stell dir weiter vor, dass du irgendwann merkst, dass der Job als Kaiser nicht so ganz deine Welt ist. Ständig zu repräsentieren und zu regieren ist nicht dein Ding. Aber andererseits kommst du nicht einfach umschulen. Schließlich bist du Gottkaiser und kannst nicht mir nichts, dir nichts alles hinschmeißen. Was tun?
Ich denke, dass sich viele Könige und Kaiser im Laufe der Jahrhunderte in dieser Situation wiedergefunden haben. Heutzutage kann man durchaus auf den Thron verzichten oder, wie Prinz Harry aus England, „die Firma verlassen“, wie er es nannte.
Tennō Hirohito und die Quallen
Kaiser Hirohito, genauer gesagt Tennō Hirohito, der von 1929 bis 1989 über Japan herrschte, könnte auch jemand gewesen sein, der sich in seiner Rolle als Kaiser vielleicht nicht wohl gefühlt hat. Ob er diesen „Job“ gern bekleidet hat, ist zwar nicht bekannt, aber es fällt auf, dass der Tennō sich sehr für Meeresbiologie interessiert hat. Zu seiner Zeit gab es im japanischen Kaiserpalast sogar ein Forschungslabor. Und nicht nur das, er hat sich im Laufe seiner wissenschaftlichen Karriere zu einem der angesehensten Experten für Quallen entwickelt und sogar 31 Quallenarten entdeckt. Es ist also fast anzunehmen, dass Hirohito – wenn er nicht als Prinz geboren worden wäre – sein Ikigai in der Meeresbiologie gefunden hätte.
Manchmal ist schummeln erlaubt
Sicher, wir sind alle keine Kaiser, aber manchmal finden wir uns in einer Lebenssituation wieder, in der wir nicht einfach alles hinwerfen können bzw. wollen. Manchmal können wir eben nicht alle Aspekte unseres Ikigais unter einen Hut bringen, aber das muss nicht schlimm sein. Wichtig ist, dass wir glücklich und erfüllt sind. Manchmal ist es dann so, dass der Job einen Teil des Ikigais erfüllt und andere Tätigkeiten den Rest.
Dein Beruf erfüllt mindestens die 25% des Ikigais in denen es um das Geld geht. Und ja, er wird auch „Was ich gut kann abdecken“. Sonst würdest du den Beruf nicht ausüben und dein Chef hätte dich schon längst gefeuert (Wenn du das anders empfindest, dann wirf mal einen Blick auf das Hochstaplersyndrom). Da andere Menschen dir Geld dafür geben, was du machst, scheint die Welt deine Tätigkeit auch zu brauchen. Somit haben wir dann schon 75% des Ikigais. Und wenn du dann in deiner Freizeit etwas machst, was du liebst, dich erfüllt und dir Kraft gibt, dann ist das letzte Viertel auch erfüllt. OK, da habe ich jetzt etwas geschummelt. Aber im Endeffekt kommt es ja nicht darauf an, das perfekte Ikigai zu finden, sondern darauf, dass du glücklich bist. Da darf man dann auch mal etwas schummeln.
Oh, und bevor ich die Führungskraft vom Anfang des Textes vergesse… Er hat seine Stundenzahl reduziert und baut nebenher eine Selbstständigkeit auf, die sein Ikigai erfüllt.