Über Ikigai
Ikigai
Das Wort Ikigai direkt zu übersetzen ist nicht möglich, da wir in der deutschen Sprache kein Äquivalent haben. Ikigai ist japanisch und wird eigentlich 生き甲斐 geschrieben. Iki (生き) bedeutet so viel wie „leben“ oder „lebendig sein“ und der Suffix gai (甲斐) steht für „Wert“, „fruchtbar sein“ oder „Wert, getan zu werden“. Wenn man Ikigai in einem Wort übersetzen möchte, dann wäre „Lebenssinn“ wahrscheinlich der passendste Ausdruck. Dazu möchte ich allerdings anmerken, dass es im Japanischen zwei Übersetzungen für Leben gibt. Man kann Leben mit Jinsei (人生) oder als Seikatsu (生活) übersetzen. Jinsei meint bedeutet eher so etwas wie das gesamte Leben oder Lebensspanne, wohingegen sich Seikatsu auf das alltägliche Leben bezieht. Wenn ein Japaner von Ikigai spricht, dann bezieht er das eher auf Seikatsu, also das tagtägliche Leben. Dadurch finde ich es schwierig Ikigai mit „Lebenssinn“ oder „Sinn des Lebens“ zu übersetzen, weil es eher um den Sinn im Alltäglichen geht. Ikigai ist pragmatisch und hat einen konkreten Bezug zur Lebensrealität. Daher gefallen mir Formulierungen wie „Der Grund morgens aufzustehen“, „Das Leben lebenswert machen“ oder „Wofür es sich zu leben lohnt“ besser. „Das Leben lebenswert machen“ ist eine besonders passende Formulierung, finde ich. Ich mag sie, weil sie Aktivität beinhaltet. Die Idee von Ikigai ist es nämlich aktiv nach dem eigenen Grund zu suchen, morgens aufzustehen.
Woher kommt Ikigai?
Die Wurzeln des Ikigai
Dem japanischen Wissenschaftler und Forscher Professor Akihiro Hasegawa zufolge, tauchte der Begriff Ikigai zum ersten mal in der Heian-Zeit (794 – 1185) auf. Andere Quellen gehen davon aus, dass Ikigai zum ersten Mal im 14. Jahrhundert im Epos Taiheiki erwähnt wird. Interessant dabei ist, dass Ikigai damals noch weitgehend synonym mit Shinigai (死にがい) genutzt wurde. Shinigai bedeutet so viel wie „Das, wofür es sich zu sterben lohnt“. Auf den ersten Blick wirkt das vielleicht ein wenig paradox, dass der Grund zu Leben und der Grund zu sterben dasselbe sein könnte. Dazu muss man verstehen, dass das Leben im antiken Japan sehr auf den Tennō (天皇), den himmlischen Herrscher, ausgerichtet war. Somit war der Sinn für das eigene Leben und vielleicht auch das eigene Sterben, dem Tennō zu dienen.
Ikigai in der Neuzeit
Nach dem zweiten Weltkrieg gab es einen großen Umbruch in der japanischen Kultur und Gesellschaft. Das zerstörte Japan musste neu aufgebaut werden und wandelte sich in eine aufstrebende Wirtschaftsnation. Der Sinn, morgens aufzustehen, bestand immer mehr darin, die Nation neu aufzubauen und Geld zu verdienen. Diese, sehr auf den wirtschaftlichen Erfolg ausgerichtete, Denkweise wurde in den 60er und 70er Jahren aber immer mehr hinterfragt. Zum einen kamen immer mehr Menschen, die den Wiederaufbau vorangetrieben hatten, ins Rentenalter. Sie konnten ihren Beruf nicht mehr ausüben und „fielen in ein Loch“. Zum anderen stellten die nachkommenden Generationen fest, dass es sich leer anfühlen kann, wenn man einfach nur Geld verdient um Geld zu verdienen.
In dieser Zeit entdeckte Japan das Ikigai für sich wieder. Ikigai wurde zunächst in Japan ein großer Trend. Die weltweite Öffentlichkeit wurde erst durch verschiedene Studien und Untersuchungen darauf aufmerksam. In diesen wurde untersucht, warum die Menschen in der japanischen Präfektur Okinawa überdurchschnittlich alt werden. Neben der speziellen Ernährung (die „Okinawa-Diät„) und viel körperlicher Aktivität ist es von entscheidender Bedeutung ein Ikigai zu haben. So konnte die Ohsaki-Studie nachweisen, dass das Sterberisiko für Menschen, die ihr Ikigai leben, signifikant geringer ist.
Zwei Arten von Ikigai
Einige Autoren haben bei ihren Betrachtungen zwei Ausprägungen von Ikigai identifiziert. Die ersten Variante, die eher traditionell japanisch geprägt ist, stellt die Gemeinschaft in den Vordergrund. Hier geht es eher darum, wie man die Gemeinschaft voranbringen und sich sozial engagieren kann. Diese Form des Ikigai wird als Ittaikan oder Ichi taikan (一体感) bezeichnet, was so viel heißt wie „Gemeinschaftsgefühl“. Die andere Variante, das Jiko Jitsugen (自己実現), bezeichnet die Idee der Selbstverwirklichung.
Persönlich denke ich, dass diese Unterscheidung eher theoretisch ist, da wir eigentlich nie alleine, ohne andere Menschen leben können. Wir brauchen also immer eine Art von sozialem Umfeld. Dieses Umfeld werden wir mit unserem Denken und Handeln auch immer verbessern wollen, sodass Selbstverwirklichung auch immer das Umfeld voranbringt. Allerdings kann Selbstverwirklichung schon mal dazu führen, dass man sich ein neues Umfeld suchen muss.
Warum solltest du dein Ikigai kennen?
Wie schon erwähnt, zeigt die Ohsaki-Studie, dass Menschen, die ihr Ikigai kennen und leben, älter werden. Persönlich denke ich, dass der eigentliche Vorteil darin besteht, seinen Lebensinhalt zu kennen; zu wissen was einen erfüllt und glücklich macht. Weißt du darum bescheid, dann hast du einen Fixstern, in deinem Leben. Genau wie bei einem richtigen Stern, nach dem du navigieren kannst, kannst du deinen Ikigai-Stern nutzen um deinen Lebensweg auszurichten. Er gibt Halt und Zuversicht in stürmischen Zeiten. Oder, etwas weniger poetische ausgedrückt: Wenn du dein Ikigai kennst, dann verbessert sich damit auch deine Resilienz. Viktor Frankl, ein österreichischer Psychiater, Auschwitz Überlebender und Begründer der Logotherapie, fasste das gut in dem Satz „Wer ein Warum zu leben hat, erträgt fast jedes Wie“ zusammen.
Wie findet man sein Ikigai?
Theoretisch ist es ganz einfach sein Ikigai zu finden – praktisch ist es meist ein längerer Prozess. Das Ikigai ist ein Thema, welches die Schnittmenge aus vier anderen Themenbereiche darstellt.

Diese Themenbereiche sind:
- Das, was du liebst (好きなこと)
Dabei handelt es sich um Tätigkeiten bei denen du dich wohl fühlst und schnell in den Flow kommt, also die Zeit vergisst. - Das, worin du gut bist (世界が求めるもの)
Hierunter fallen Dinge, die du besonders gut kannst; Tätigkeiten die dir leicht und ohne Mühe von der Hand gehen. - Das, was die Welt braucht (お金になること)
Mit welcher deiner Fähigkeiten kannst du die Welt und die Menschen weiterbringen? Wie kannst du die Welt zu einem besseren Ort machen? - Das, womit du Geld verdienen kannst (得意なこと)
Wie kannst du, mit deinen Fähigkeitien, Geld verdienen? Wofür könnten Menschen dir Geld geben? Wenn du schon finanziell abgesichert bist, dann kann es sich hierbei auch einfach um einen Gegenwert, wie z.B. Anerkennung, handeln.
Diese vier Punkte mögen erstmal etwas verwirrend erscheinen, aber sie haben alle ihre Daseinsberechtigung, wie du sehen wirst. Ich habe oft Coachees bei denen einer oder mehrere der Punkte nicht erfüllt sind. Das führt schnell zu einem Ungleichgewicht. Eines der besten Beispiele ist dabei meine eigene Geschichte. Bevor ich Coach wurde, war ich Programmierer. Als selbstständiger Programmierer war ich gut, die Welt brauchte mich und ich habe gutes Geld verdient. Allerdings habe ich den Job irgendwann nicht mehr geliebt und das führte zu einem Ungleichgewicht und einem Gefühl der Leere.
Coachees, die ich bei dem Gang in die Selbstständigkeit begleite, erlebe ich auch immer wieder, dass sie mit einer Idee gründen wollen, in der sie gut sind und die sie lieben, aber mit der sie kein Geld verdienen können. Es gibt allerdings auch das Gegenteil. Menschen die mit einer Idee in die Selbstständigkeit gehen wollen, mit der sie viel Geld verdienen können, die sie aber nicht lieben. Auch das wird schnell zu einem Problem.
Du erkennst schon, dass jeder der Punkte seine Daseinsberechtigung hat. Lediglich der letzte Punkt, die Frage ob man Geld verdienen kann, ist diskussionswürdig. Für die Rentner auf Okinawa ist das beispielsweise nicht wichtig, da sie ihre Rente vom Staat bekommen. Und ich hatte auch schon einige Privatiers im Coaching für die das nicht relevant war, das sie finanziell bereits ausgesorgt hatten. Nichts desto trotz ist es wichtig, dass du für deine Tätigkeit etwas zurückbekommst. Wie gesagt muss das nicht immer Geld sein. Oft reicht es auch schon in ein paar strahlende Augen zu blicken, Dankbarkeit zu erfahren oder zu sehen, dass man das Leben anderer Menschen verbessern konnte.